Im Beitrag “Kinder und Wahrheit” habe ich schon dargelegt, wie Menschen – unbewusst – die Gesamtheit ihrer Wahrnehmungen als etwas Zusammenhängendes verarbeiten und auswerten. Im Volksmund nennen wir diese Gesamtheit oft die “Atmosphäre”. Sie wird als drückend, kalt, feindselig oder eben auch als freundlich, warm oder friedlich erlebt.
An neugeborenen Kindern lässt sich beobachten, wie exakt diese Wahrnehmungen ausgewertet werden: Studien haben gezeigt, dass Babys in den ersten 6 Monaten ihres Lebens bereits grundlegende Rollenerwartungen ihrer Eltern erfassen können – ohne Worte verstehen zu können, ohne denken zu können!
Das Phänomen, welches ich Ihnen vorstellen möchte, lässt sich als Neben-sich-Stehen (“Nebbe der Kapp”) bezeichnen:
das Kind hat einen leeren, glasigen Blick, zappelt oder bewegt sich ungeschickt und scheint mit Worten nicht mehr erreichbar zu sein. Dieser Zustand ist eine häufige Folge von atmosphärischem Überangebot: die Reize von außen übersteigen die Verarbeitungskapazität des Gehirns. Im einfachsten Fall kommt dies zustande, wenn ein Kind übermüdet ist und daher weniger Reize als sonst verarbeiten kann. Auch eine deutliche hör-/sichtbare Reizüberflutung kann vorliegen: auf dem Jahrmarkt, in der Fußgängerzone, im Supermarkt, auf einem lauten Schulhof…
Die bedeutsamste Variante der Reizüberflutung ist aber die atmosphärische Überladung mit “persönlichen” Informationen, die für Kinder eine inhaltliche Überforderung sein können.
Ein Beispiel auf dem Alltag sind Familienfeiern, wo viele Konflikte in der Luft liegen, die aber aufgrund des Anlasses oder prinzipiell nicht angesprochen und geklärt werden. Auch familiäres Beisammensein in gereizter oder gehetzter Atmosphäre (nach einem Streit der Eltern, bei der Urlaubsvorbereitung …) kann quasi das Nervensystem eine Kindes aus der Spur bringen, besonders auf beengtem Raum wie zum Beispiel im Auto.
In solchen Überforderungssituationen kann sich ein Kind nicht mehr altersgemäß verhalten, kann auch nicht mehr zuhören und folgen (da das geistige Aufnahmevermögen überschritten ist). Es ist möglicherweise ungeschickt und macht etwas kaputt, hat einen Wutanfall oder streitet sich mit anderen Kindern. Dies wiederum erzeugt Stress und Ärger bei allen Beteiligten, die Reizdichte nimmt weiter zu und es entsteht eine Reizerhöhungsspirale, die häufig in die Eskalation führt. Das Kind verwickelt sich nun in eine gewaltsame Auseinandersetzung mit anderen Kindern, tut sich irgendwie weh oder stellt etwas an (rennt auf die Straße ohne zu gucken, kippt Wasser aufs Parkett …) .
Das wiederholte Erleben dieses Ablaufs erweckt leicht den Eindruck, er sei nicht zu stoppen. Leider wird er in unserer Gesellschaft oft auch als unvermeidbar weil normal dargestellt. Zum Glück hilft aber bereits das Wissen um die oben beschriebenen Wechselwirkungen dabei, kritische Situationen im Ansatz zu erkennen und Entschärfungsmethoden zu entwickeln. In der Spieltherapie habe ich die Möglichkeit, Eltern hierbei zu helfen und Kindern ein (alterentsprechendes) Verständnis solcher Situationen zu vermitteln. Anschließend helfe ich meinen Patienten beim Finden und Üben von hilfreichen Verhaltensmöglichkeiten.
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